weglaufhauskritik mai 90

I. Gegenstand von Solidarität:

Wer will, daß die psychiatrische Herrschaftsinstitution irgendwann einmal verschwindet, kommt um die inhaltliche Bestimmung von politischer Gegnerschaft nicht herum.

Weniger geht es dabei um Barbaren im weißen Kittel, als vielmehr um politischinstitutionalisierte Machtverflechtungen. Als politische Gegner einer jeden antipsychiatrischen Bewegung bestimmen sich gezwungenermaßen neben psychiatrischen Institutionen und ihren gemeindepsychiatrischen Fortsätzen, Wirtschaftsinteressen mächtiger pharmazeutischer Konzerne samt ihrer politischen Lobby, als auch politische Kräfte regionaler und überregionaler Art, die in konventionell-politischer Weise die gesellschaftlichen Reproduktionsgarantien der psychiatrischen Institution liefern, sowie Ärztekammern, die über die Festlegung der Psychiaterausbildungsrichtlinien wachen, wie auch letztlich eine Justiz, die den Status quo in ihren Gesetzen und Urteilen zu erhalten strebt.

Der Rahmen von Solidarität in antipsychiatrischen Bewegungen ist mit dieser politischen Gegnerschaft vorgegeben. Differenzen und Widersprüche innerhalb von antipsychiatrischen Bewegungen wären im Rahmen obig-benannter politischer Gegnerschaft inhaltlich-solidarisch zu konkretisieren, wenn die Tendenz zu selbstzerfleischenden Prozessen, - äußerliche Konfrontationen und Personenkult mit Intrigen gleichermaßen umfassend -, vermieden werden sollen.

II. Reale Widersprüche im Umgang mit dem politischen Gegner:

Sowenig praktische Schritte antipsychiatrischer Bewegungen sich völlig losgelöst von bestimmten politischen Verflechtungen mit gesellschaftlichen Herrschaftsinstitutionen realisieren lassen, sowenig ist andererseits das persönliche Bewußtsein des politischen Gegners mit seiner gesellschaftlich-institutionellen Machtfunktion unbedingt identisch. Beides zusammen gestaltet möglicherweise zunächst den freundlichen Umstand, daß auch institutionelle Machtfunktionsträger entgegen ihrer Funktion sich antipsychiatrischer Aufklärung als bewußtseinszugänglich erweisen. Übereinstimmung mit partikularen antipsychiatrischen Inhalten kommt dann möglicherweise aus ganz verschiedenen Bewußtseinsmotiven zustande, die im Praktischen dann gefährlich aufgehen, wenn aus der Partikularität die antipsychiatrische Dimension erst hervortritt und der Machtvertreter sich gezwungen fühlt, auf seine gesellschaftliche Herrschaftsfunktion zurückzugreifen. Der politische Schritt von antipsychiatrischer Aufklärung zur praktischen Zusammenarbeit ist bei bewußtseinszugänglichen Machtfunktionsträgern deshalb strikt zu unterlassen. Letzteres auch besonders deshalb, da schon immer in der bürgerlichen Gesellschaft nicht die aufklärerische Vernunft, sondern politisch-ökonomische Machtinteressen zur politischen Entscheidung führten, d.h. die personell-gesellschaftliche Machtfunktion gegenüber dem Liebäugeln eines davon abweichenden Bewußtsems sich im Ernstfall immer als wesentlich erwies.

III. Die Notwendigkeit sich analytisch politische Interessenlagen zu verdeutlichen:

Nicht nur das politische Ja oder Nein zum Weglaufhaus, sondern allein die Art des politischen Ja kann von unterschiedlichen, durchaus sich ausschließenden Interessen getragen werden.

Man kann ein antipsychiatrisches Weglaufhaus unterstützen, weil man:
Antipsychiatrische Politik meint darin ein Stück weit praktisch werden lassen zu können. oder

In basisdemokratischer, politischer Weise sich den Inhalten antipsychiatrischer Politik stellt und sie in politisch-vermittelter Weise mitträgt, ohne in ihr praktisch verwurzelt zu sein.

oder

Man kann ohne antipsychiatrischen Bewußtseinshorizont im Weglaufhaus einen politischen Gegenstand entdecken, mittels dem Machtpolitik verschleiernd sich demokratisch zu legitimieren weiß, sei es, ein in gesellschaftlicher Größenordnung unproblematisches alternatives Vorzeige-projekt zu besitzen, sei es, sachlich auf die Funktionsunfähigkeit der Alternative zu ihrer Widerlegung von vorneherein praktisch zu setzen, sei es, bei der Zustimmung auf die schrittweise bürokratische Zermürbung zu setzen, so daß von der Alternative mittels institutio-neller Integration lediglich der bloße Name der Alternative als Aushängeschild übrigbleibt. etc.

Vertretern Staats- und institutionstragender Parteien, die den Konflikt von Psychiatrie und Antipsychiatrie durch Zuwendung von Haushaltsgeldern tatsächlich mittragen, ist auch bei diesem erfreulichen Schritt deshalb mit vorsichtiger Skepsis auf die Finger zu sehen.

IV. Die politische Verantwortung: Interne Transparenz von Inhalt und Taktik:

Antipsychiatrische Politik zu einem Teil im Weglaufhausprojekt konkret werden zu lassen, ist etwas anderes, wie in blinder Realisierungswut die Konkretion des Projektes über die Inhalte antipsychiatrischer Politik zu stellen. Der Blick auf mögliche Staatsgelder sollte zumindest nicht dominant auf die politische Argumentation sich niederschlagen. In diesem Sinne wäre auf eine klare Trennung substanzieller Inhalte von ihrer jeweils taktischen Form wert zu legen, und zwar so deutlich, daß auch nicht unmittelbar am Weglaufhausprojekt mitarbeitenden Psychiatriebetroffenen aus der Irrenoffensive das Weglaufhausprojekt als durchsichtig erscheint.

Für den Senat erarbeitete Konzeptionen sind grundsätzlich anderen Charakters wie für die antipsychiatrische Praxis erarbeitete Konzeptionen, auch wenn es jeweils um den gleichen Inhalt dabei gehen sollte. Beides wäre bei internen Auseinandersetzungen nicht bis zur inhaltlichen Unschärfe zu vermengen.

Ohnehin wäre im Sinne antipsychiatrischer Politik nach Möglichkeit eine inhaltlichoffensive Taktik einer mystifizierenden Taktik gegenüber öffentlichen Institutionen vorzuziehen. Dazu gehört auch die Frage, wie weitgehend für eine antipsychiatrische Initiative die Formen bürgerlicher Vereinspolitik (nicht der Verein selbst) zu akzeptieren sind? Z.B. der politische Umschlag fachlicher und notwendiger Berufsqualifikationen in die Repräsentationsfunktion politischer Öffentlichkeitsarbeit ("Unser Rechtsanwalt zu Diensten, unser Wirtschaftsexperte in Vorbereitung, aber ach, wo steckt denn unser Beirat bloß.")

V. Zum Weglaufhaus:

A. Zweck und Form:

1) Schutz vor den Maßnahmen der psychiatrischen Herrschaftsinstitution, dem SPD und der Justiz: das sind im Wesentlichen: Zwangseinweisung, Gebrechlichkeitspflegschaft, Vormundschaft, Registrierung, psychiatrische Begutachtung und Zwangsbehandlung mit Elektroschocks und psychophar-makologischen Giften.

2) Freie individuumsbezogene Zusammenarbeit von Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen bei der persönlichen Konfliktbewältigung. Dabei sollte keine zwanghafte Strukturierung des Alltags im Sinne von psychiatrischer Beschäftigungstherapie vorgenommen werden, sondern die Offenheit zu selbstbestimmter Alltagsgestaltung bestehen.

3) Mitarbeiterinnenhilfe bei institutionellen Problemen aller Art und bei der möglichen Vermittlung von externen Dienstleistungen.

B. Ökonomischer und Rechtlicher Rahmen des Weglaufhauses:

l) Ökonomisch sollten Finanzierungsformen gefunden werden, die von vorneherein Registrierung, psychiatrische Begutachtung oder psychiatrische Diagnosenstellung bei den Bewohnerinnen des Weglaufhauses ausschließen und damit ihre Anonymität gewährleisten. (Z.B. Pauschalfinanzierung gegenüber Tagessatzfinanzierung etc.)

2) Als Kontrollform hinsichtlich der Verwendung von Staatsgeldern durch Senatsstellen sollte beim Weglaufhaus wie bereits bei der Irrenoffensive ein Jahresbericht ausreichen.

3) Ein Weglaufhaus ist für die Justiz noch kein Grund Gesetzesbestimmungen hinsichtlich der psychiatrischen Zwangsunterbringung etc. außer Kraft zu setzen. Wohlgesonnenheit bei der Justiz könnte dazu führen, rechtlich

das antipsychiatrische Weglaufhaus wie eine psychiatrische Einrichtung zu behandeln, indem der Einzuweisende vor die Alternative gestellt wird, auch das Weglaufhaus benutzen zu können. Praktisch wäre damit natürlich dem Weglaufhaus gedient. Eine antipsychiatrische Initiative muß jedoch dabei auf den praktisch-unvermeidbaren Widerspruch im Bewußtsein reflektieren, um nicht dabei politisch-betriebsblind zu werden.

C. Innerer Rahmen des Weglaufhauses:

1) Nach Möglichkeit sollten im Weglaufhaus nur ehemalige Psychiatriebetroffene arbeiten. Ohne Nichtbetroffene wegen ihrer Fähigkeiten abqualifizieren zu wollen, ist auf der Grundlage praktischer Psychiatriebetroffenheit ein solidarischerer Umgang zwischen Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen zwangsläufig im Weglaufhaus gegeben. Herangezogene Honorarkräfte (The-rapeuten, Heilpraktiker etc.) würden dabei eine Ausnahme bilden.

2) Um eine Verselbständigung des Vereins zum Schutz gegen psychiatrische Gewalt gegenüber den Mitarbeiterinnen des Weglaufhauses zu vermeiden, wärengerade Einstellungsentscheidungen bei Letzteren zu zentrieren. (Sie müssen ja zusammenarbeiten können!) Zentrierung hieße: Die Mitarbeiterinnen entscheiden gemeinsam unter Berücksichtigung der Interessen der Bewohnerinnen über Neueinstel-lungen und setzen den Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt darüber in Kenntnis.

3) Durchsetzung von gleicher Bezahlung bei unterschiedlicher Qualifikation im Weglaufhaus: Notwendig wäre die Erarbeitung einer Regelung, die optimale Stellenfinanzierung durch den Senat an ein internes Konzept qualifikationsunabhängiger Bezahlung rückbindet.

4) Im Sinne von Betroffenen wird Video und Begleitforschung wegen des technischen bzw. wissenschaftlichen Ob-jekicharakters von Menschen abgelehnt. Öffentlichkeitsarbeit ist auch anders möglich.

5) Die theoretische Weglaufhausantizipation des Konzeptes in Gestalt eines verbindlich-abstrakten Sollens darf nicht die erst gemeinsam zu erarbeitende Praxis des Weglaufhauses von vorneherein bürokratisch zukleistern. Vielerorts sind abstrakte und unein-lösbare Ansprüche im Konzept zu reduzieren.

Weitere Punkte:

I. ZUR AUFNAHME INS WEGLAUFHAUS:

Sie sollte zunächst menschlich und nicht bürokratisch sein!

Zum einleitenden Anspruch im Konzept:
Wer sein Leben voll verantwortet, braucht ohnehin nicht ins Weglaufhaus, da er allein klar kommt.

Dem Psychiatrieentlaufensein sollte zwar ein Vorzug eingeräumt werden, nicht aber sollte es Zwangsbedingung für die Aufnahme sein, um damit möglicherweise ein statistisches Faktum besser politisch verwerten zu können. Vorbeugung hinsichtlich möglicher psychiatrischer Zwangseinweisungen müßte für die Aufnahme auch ausreichen. Keine Diskriminierung von nach § 64 und § 63 in der Psychiatrie Untergebrachten, durch unkommentierten Ausschluß! Ihr Ausschluß bedarf aufrichtiger Begründung (etwa: Eigene Überforderung durch die Rechtsproblematik).

Ein Mensch der als Quasi-Psychiater Drogen- oder Alkoholgefährdung diagnostiziert, ist im Weglaufhaus überflüssig. Was Drogen- oder Alkoholgefährdung heißt, sollte wie "psychische Erkrankung" erst einmal inhaltlich und terminologisch durchdacht werden. (Anmerkung: In der Psychiatrie gibt es hierzu Urin- und Pustkontrollen!) Die sinnvolle Bevorzugung von Frauen sollte nicht statistisch-zwanghaft durch Platzreservierungen durchgeführt werden.

II. ZUM RAUSSCHMISS AUS DEM WEGLAUFHAUS:

Der gemeinsame Beschluß auf Rausschmiß, - der ohnehin nur letztmögliches Mittel sein sollte -, muß auch indirekt als Versagen des Kollektivs von Weglaufhaus-Mitarbeitern angesehen werden. Sicherzustellen wäre dabei, daß man nicht mit dem Rausschmiß psychisch-angeschlagene Menschen indirekt der Psychiatrie ausliefert. Deshalb sollte bei einem Rausschmiß verantwortlich die unmittelbare Lebensperspektive des davon Betroffenen gemeinsam mitbedacht werden.

III. ZEITDAUER IM WEGLAUFHAUS:

Angesichts einer sich in Berlin zuspitzenden Wohnungsknappheit wird die 6 Monatsfrist sich bei Bewohnern nicht immer einhalten lassen. Deshalb wären den formalen Kriterien hierbei praktische Kriterien vorzuziehen.

IV. MITHILFE BEIM INDIVIDUELLEN WUNSCH NACH AKTENEINSICHT

darf nicht eine Zusammenarbeit des Weglaufhauses mit der Institution Psychiatrie beinhalten. Auch was bei Zusammenarbeit alles psychosoziale Einrichtungen sein sollen, wäre im Inhalt konkret zu klären.

V. SATZUNGSÄNDERUNGSVORSCHLAG ZU § 7,2 ARBEITSAUS-SCHUSS:

Ähnlich dem Plenum der Irrenoffensive sollte die unmittelbare Stimmberechtigung aller Anwesenden gelten. Und zwar:

Wie bereits festgelegt berufen allein ordentliche und psychiatriebetroffene ordentliche Mitglieder die außerordentliche Mitgliederversammlung ein.

Jeder Mitarbeitende hat im Arbeitsausschuß das gleiche Stimmrecht! Das auch als Nicht-Mitglied. Psychiatriebetroffenen, die weder Mitglied noch Mitarbeiter sind, ist ein politisches Stimmrecht zur Vertretung ihrer Belange im Arbeitsausschuß einzuräumen.

Adrian, Dorothea, Marianne, Michael

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