Die Irren-Offensive
Nr. 11
Zeitschrift von Ver-rückten gegen Psychiatrie

 

Die Kolonie der Verrückten
In der Irrenkolonie Wahnwitz können Besucher beobachten,
wie sich Geisteskranke und Irrenärzte verhalten.

Draußen drücken sich die Besucher die Nasen platt und drinnen tobt ein Geisteskranker: Der junge Schizophrene will nicht, daß die Versuche aufhören. Er weigert sich, den Elektroschockraum zu verlassen. Er will weitermachen - oder wenigstens so viel Neuroleptika bekommen, wie er möchte. Der Irrenarzt Dr. Störfried Böckelsteiß und seine Assistentin müssen ihm erst eine Spritze verpassen, bevor er Platz macht für seinen Artgenossen, der die ganze Zeit schon ungeduldig im Nebenraum gewartet hat.

Der Ort des Geschehens ist Wahnwitz, das Versuchsgelände der Berliner Lady-Diana-Clinic (vormals "Bonnies Ranch"). Böckelsteiß und seine Kollegen vom Institut für Psychohygiene machen im wahrsten Sinne des Wortes "öffentliche Wissenschaft". Die Anstaltsbesucher können in alle Räume blicken, in denen Versuche stattfinden. Nur eine dicke Glasscheibe trennt sie von den Kranken und den Ärzten. Sogenannte Normpfleger erklären den Zuschauern, was bei den Versuchen passiert.
Neben den Testlabors haben die Ärzte auch Beobachtungstürme, von denen sie die Kranken - ohne diese zu stören - beim alltäglichen Familienleben, Arbeiten und Spielen erforschen können. Etwa 30000 Quadratmeter stehen den Verrückten zur Verfügung, als Freigelände oder als Wohneinheiten mit reichlich Rückzugs- und Versteckmöglichkeiten. Die dort installierten Videokameras und Wanzen sind so versteckt, daß sich die Irren völlig unbeobachtet fühlen können.

"Wahnwitz ist die einzige Forschungsanlage der Welt, in der komplett gestörte Familien mit bis zu vier Generationen therapiert werden: Wir haben hier zum Beispiel den senilen Großvater, die schizophrenogene Mutter, den künstlerisch veranlagten Sohn mit seiner präpsychotischen Persönlichkeitsstruktur und die manisch-depressive Tochter mit ihrem debilen Nachwuchs; hinzu kommen noch einige zwangsneurotische Onkel mit Drogenproblemen und nymphomane Tanten mit Eßstörungen...", sagt die Psychologin Dr. Lilly Klapsmüller, eine der Leiterinnen der Forschungsanlage. Enge Zusammenarbeit von biologisch orientierten Psychiatern und Pharmaproduzenten einerseits und verhaltenstherapeutisch geschulten

Psychologen andererseits ist typisch für das Psychohygiene-Institut und die Irrenkolonie Wahnwitz, denn viele Fragestellungen kommen aus der Erforschung geisteskranken (bzw. abweichenden) Verhaltens: Wie lernen Geisteskranke soziales Verhalten? Was lernen sie von den Therapeuten, was von anderen Psychotikern? Wie lernen sie, um Medikamente oder um Elektroschocks zu bitten?
Dr. Klapsmüller formuliert es drastisch: "Wie kriegen wir die Kranken dazu, uns die Drogen aus der Hand zu fressen, auch wenn wir sie wie Scheiße behandeln?"

Störfried Böckelsteiß will herausfinden, was Geisteskranke aus dem Verhalten anderer Menschen herauslesen können. Dazu benutzt er das Hütchenspiel, bei dem der Spielleiter ein Psychopharmakon unter einem von drei Hüten versteckt - unter den anderen beiden befinden sich lediglich Placebos - und dann schnell die Hüte vertauscht. "In diesem Spiel sind alle Geisteskranken ausgezeichnet. Sie wissen fast immer, unter welchem Hütchen das echte Medikament liegt", sagt Böckelsteiß. Er hat das Experiment jetzt verändert und vertauscht die Hütchen hinter einem Sichtschutz, so daß die Irren nicht sehen können, was geschieht. Dafür zeigt der Psychiater anschließend mit dem Finger auf das richtige Gefäß. "Die Irren verstehen den Hinweis aber nicht, sie raten", faßt Böckelsteiß die bisherigen Ergebnisse zusammen, "vielleicht betrachten sie uns Ärzte aber auch nicht als brauchbare Informanten." Jetzt plant das Team von Lilly Klapsmüller Tests, bei denen Geisteskranke auf Hinweise von anderen Geisteskranken achten müssen.

Den Verrückten gefallen die Tests ganz offensichtlich. In der Irrenhalle hat sich bereits eine Gruppe von Schizophrenen am Zugang zum Labor versammelt und wartet. Böckelsteiß öffnet die Tür: Ein älterer Paranoiker mit jesusähnlicher Bart- und Haartracht schiebt die anderen beiseite und betritt den Versuchsraum. Betont lässig macht er sich an die Aufgaben und scheint die Ärzte bewußt zu ignorieren. Er hat es nicht nötig, um Psychopharmaka zu betteln - aber die gewonnenen Tabletten nimmt er trotzdem gerne.

Aron Zyprex

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