Die Irren-Offensive Nr.8 - 4/99

Über einen altbekannten
sozialpädagogischen Ton in der Antipsychiatrie


Eigentlich ist er schon altbekannt, doch mir ist dieser Ton in den letzten Wochen gleich dreimal aufgefallen: zuerst in dem Buch von Kerstin Kempker, "Teure Verständnislosigkeit", im Verlag von Peter Lehmann erschienen, dann in Heft 13 vom "Brückenschlag", Titel "Hilflose Gewalt", und schließlich bei der Vorführung des Film-Materials von Kathrin Gerloff über das "Foucault-Tribunal". Das Verrückte gilt als "das gefährliche Andere, das ausgegrenzt und pharmakologisch zur Strecke gebracht werden muss". Das will Kempker ändern. Das Verrückte soll "für alle ein wichtiger und ergiebiger Hinweis auf bisher ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten" werden und "die höheren sozialen Freiheitsgrade" einer Zukunftsgesellschaft belegen. Mit anderen Worten: Das Verrückte soll von der Klappenkritzelei zum Aushängeschild werden. Die "Sprache der Verrücktheit", so Kempker, "wäre immer weniger zur Überzeichnung gezwungen", mit anderen Worten: sie würde immer normaler. Das einzig Gute an diesem Konzept ist, dass es - im Gegensatz zur Ausgrenzung und pharmakologischen Erledigung - nicht funktioniert, weil die Verrücktheit für Sozialpädagogen viel zu "gefährlich" ist.


Der "Brückenschlag" gehört sicher nicht in die Antipsychiatrie, sondern operiert offen "sozialpädagogisch". Überall dominiert hier das Arme-Opfer-Modell, das so tut, als wäre Verrücktheit - hier psychische Krankheit genannt - eine ziemlich harmlose, mit gutem Zureden und viel Verständnis beherrschbare Sache - wenn nur erst die alten Gewaltstrukturen abgebaut sind. Dabei weiß jeder, dass die Weichspülung der Psychiatrie nur mit dem Zusatz von reichlich Neuroleptika funktioniert. Denn ein Irrer, der mit sich reden lässt, ist keiner.


Gerlof beklagte sich, dass die Sender an ihrem geplanten Film kein Interesse haben. "Wenn es um Verrücktheit geht," erklärte sie bitter, "dann wollen die Leute auch Verrückte in Action sehen." Die Filmemacherin hält das für ein Zeichen mangelnden politischen Bewusstseins. Typisch sozialpädagogisch. Denn "die Leute" haben doch Recht. Ideologisches Gequatsche kennen sie zur Genüge, die Mär von der repressiven, inhumanen Gesellschaft mit ihren faschistoiden Strukturen ist inzwischen über 30 Jahre alt, keiner will sie mehr hören, nicht einmal die linken Femsehbeamten, und Strafgefangene, Obdachlose, Heimkinder, Prostituierte, Süchtige und vergewaltigte Frauen haben längst durchschaut, dass sie von diesen Discount-Akademikern für eine nivellierende und wirkungslose Randgruppen-Strategie nur benutzt werden, und sind praktisch und unbürokratisch zur Selbsthilfe geschritten. In diese wilde Landschaft gehört auch die Antipsychiatrie. Sie sollte sich hüten, auf den längst abgefahrenen Zug von Gerlof, Kempker & Co aufzuspringen und sich ihre Verrücktheit als "gesellschaftlichen Gegenentwurf" interpretieren zu lassen. Durch Weginterpretieren schockierender und erregender Einzelheiten im Sinne einer "fortschrittlichen" Textintention hat diese Spezies schon den Deutschunterricht kaputt gemacht.

Die Umarmung durch die Totalvermittler ist schlimmer als jede echte Ablehnung und Ausgrenzung, denn die betont Andersheit, jene verleugnet sie. Keine noch so reformierte Gesellschaft wird die Verrücktheit "akzeptieren" können, weil Verrücktheit darin besteht und dadurch definiert ist, für die gesellschaftliche Norm unakzeptabel zu sein, nämlich entweder rettungslos an ihr zu scheitern, oder sie mit nicht zu bändigender Kraft zu sprengen. Und nur darin liegt ihre Qualität - für diese Gesellschaft, auch wenn sie es nicht weiß und nicht wissen darf. Damit ist es so ähnlich wie mit der"modernen" Kunst, die hat man auch längst totgelobt. Im Grunde kann auch keine Gesellschaft "besser" oder "schlechter" auf Verrücktheit reagieren, nur anders. Darum geht es ja (z.B. Foucault) zu zeigen, dass das Einsperren in Kerker und das Dämonisieren früherer Jahrhunderte nicht unangemessener war als die heute vorherrschende wissenschaftliche Vorgehensweise. Eine Teufelsaustreibung ist nicht "schlimmer" als eine Neuroleptikabehandlung, auch nicht als eine Psychotherapie - aber natürlich auch nicht besser, diesem Kitsch sitzt auf, wer vom Fortschrittsmodell, und sei es ein Fortschritt "upside down", nicht lassen kann.

Selbst das heute sakrosankte Kriterium des "Humanen" ist vor der Verrücktheit nicht sicher. Der sozialpädogogische Vorsatz, mehr Humanität in die Psychiatrie einziehen zu lassen, ist ebenso "gut gemeint" wie die Zwangsmedikation oder die Teufelsaustreibung - angemessen ist das alles nicht. Die Verrücktheit selbst zerstört ja das sogenannte "Humane", indem sie den "Befallenen" auf das Stadium einer stummen, in sich gefangenen Kreatur zurückwirft oder auch mit einer gänzlich gewissenlosen raubtierhaften Grausamkeit gegen den "Mitmenschen" vorgehen lässt. Damit stellt sie eine geschichtliche Kategorie in Frage - ohne gleich eine neue vorzuschlagen. Etwas "Positives", "Aufbauendes" oder "Weiterführendes" ist von Verrückten nun mal schlechterdings nicht zu erfahren. Wer damit nicht klar kommt, sollte lieber die Finger von dem Thema lassen.

Angelika Willig

Kommentar:
Liebe Angelika,
ein grandioser Artikel, der mit einer bewundernswerten Klarheit den Versuch sozialpädagogischer Vereinnahmung der Antipsychiatrie aufzeigt.
Vielen Dank dafür!!!
Allerdings täuscht Du Dich, als Du behauptest, ohne Verrücktheit gäbe es keine Gesellschaft mehr. Es gibt dann nur keine Verrücktheit mehr.

René Talbot

 

Der Landesverband hat in Zusammenarbeit mit dem Bundeverband Psychiatrie-Erfahrener eine bundesweite, aktuelle Liste von Rechtsanwälten zusammengestellt, die sich für Waffengleichheit einsetzten. Im Werner-Fuß-Zentrum abholen oder aus dem Internet rauskopieren.

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